Stellen Sie sich viele Fragen

21. Oktober 2011

„Was bedeutet es, einen Menschen zu lieben?“ Auf diese Frage antwortete jemand folgendermaßen: „Einen Menschen zu lieben heißt, ihm alles sagen zu dürfen, aber vor allem: ihn alles fragen zu dürfen.“ Hier wird die Möglichkeit, alles fragen zu dürfen, noch höher eingeschätzt als die Tatsache, dass man alles sagen kann. Fragen zeigen Verbundenheit. Eine Frage zu stellen setzt Vertrauen voraus. Der Fragende macht sich verletzlich, weil er sich als Nichtwissender outet. Als Fragende signalisiere ich die Bereitschaft, mich für Neues zu öffnen, dem Gegenüber Zutritt zu einem wichtigen Teil meines Selbst zu gewähren und ihn für fähig zu halten, mich an den Stellen zu bereichern, an denen ich mich gerade selbst einem Zweifel stelle.

Gerade im Umgang mit Kindern ist es besonders wichtig, sie zu ermutigen und sich als Erwachsener mit in diese Fragewelten hineinzubegeben. Es gilt, Fragen wertzuschätzen und vielleicht auch mit Achtung und Wohlwollen auf Fragen zu reagieren, die schwere Erinnerungen an die eigene zurückliegende Kindheit wachrufen, in der Erwachsene auf ähnliche Fragen unter Umständen keine befriedigenden Antworten erhalten haben. Den Mut zur Unwissenheit wieder neu lernen, damit aus Fragen neue Entwicklungen entstehen können – dies ist eine Lernchance für Erwachsene in Gegenwart von denjenigen Kindern, die alles fragen dürfen.

Ich erinnere mich dabei an meine Kindheit, ich wollte immer wieder die gleichen Geschichten aufs Neue hören. Warum? Kinder fragen, um Antworten zu bekommen, die ihnen bestätigen, dass auf der Welt alles gut und richtig ist, so wie es ist. Sie suchen nach Anhaltspunkten dafür, dass sie sicher und geborgen leben können, Freiraum für ihre Entfaltung finden und dass dies nicht nur heute gilt, sondern an jedem neuen Tag.

Das gleiche gilt für Erwachsene, sie dürfen ihre Fragen aussprechen und die Fragen damit aus ihrem Inneren nach außen geben können. Aufgabe des Coaches ist es, die Entwicklung von Fragen zu fördern und zu Fragen zu ermutigen. So werden Coaches zu Anwälten der Fragwürdigkeit, zu Mitfragenden, weniger zu Antwortgebern. Manche Frage erhält auf diesem Wege einen anderen Horizont: Sie verlangt nicht immer in erster Linie eine Antwort, immer jedoch Zuwendung, Kontakt, Gespräch. Schwierig ist es, nicht sofort eine Antwort zu geben, sondern dass sich ein Zwischenraum zwischen Frage und Antwort bilden kann. Antworten brauchen Zeit, um sich zu entfalten, um durch alle Sinne zu wandern, um sich mit sich selbst zu befassen, um sich zu verlieren in diesem spannenden Zustand des Auf-der-Spur-Seins aber Noch-nicht-fertig-Seins.

Eine Freundin machte mich (mal wieder) auf Rilke aufmerksam, der dieses Thema in einem Brief an einen jungen Dichter wunderbar ausdrückt:

„Sie sind so jung, so vor allem Anfang und ich möchte Sie, so gut ich es kann, bitten, lieber Herr, Geduld zu haben gegen alles Ungelöste in ihrem Herzen und zu versuchen, die Fragen selbst lieb zu haben wie verschlossene Stuben und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind. Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages, in die Antwort hinein aber nehmen Sie das, was kommt, in großem Vertrauen hin, und wenn es nur aus Ihrem Willen kommt, aus irgendeiner Not Ihres Inneren, so nehmen Sie es auf sich und hassen Sie nichts“.

Unser nächstes Thema Vortragsthema im November beschäftigt sich genau damit: „Fragen können wie Küsse schmecken“. Die Ankündigung finden Sie in den nächsten Tagen hier.

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